M. Leuenberger u.a.: Geprägt fürs Leben

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Titel
Geprägt fürs Leben. Lebenwelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Leuenberger, Marco; Loretta, Seglias
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Wolfgang Hafner

Verdingkinder, Heimkinder: Ihre Geschichte wurde in jüngerer Zeit zu einem wichtigen Aspekt der ländlichen Sozialgeschichte der Schweiz. In diesem Kontext müssen auch die Arbeiten von Loretta Seglias und Marco Leuenberger gesehen werden, die mit verschiedenen Publikationen einen wesentlichen Anteil an der Aufarbeitung dieser bis jetzt noch wenig ausgeleuchteten Aspekte der jüngeren Schweizer Geschichte leisteten. Auch ihre Dissertation mit dem Titel Geprägt fürs Leben. Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert hat diese Thematik zum Inhalt. In einem grossen historischen Bogen – und das ist das eigentlich Neue an dieser Publikation – wird die Entwicklung der Aufsicht und der gesetzlichen Regelwerke sowie deren Umsetzung im Zusammenhang mit Fremdplatzierungen geschildert. Dabei werden auch die sich verändernden rechtlichen Rahmenbedingungen nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den Nachbarländern – soweit ein ähnliches System der Fremdplatzierung bestand wie in der Schweiz – dargestellt. Auffällig ist dabei die im Vergleich zu den Nachbarländern späte Durchsetzung einer gesetzlich verankerten Aufsicht (S. 317). Hier, im vergleichenden Ansatz der historischen Forschung, zeigt sich aber auch eine der Schwächen der Arbeit: das Fehlen einer analytischen Durchdringung des Stoffes. Denn warum in der Schweiz relativ spät eine wirksame Aufsicht eingeführt wurde, geht aus der Arbeit nicht hervor.

Leuenberger und Seglias gehen in ihrer Publikation von fünf Einzelschicksalen aus, aus denen sie nach bestimmten Kriterien die Themen für ihre Studie ableiten: rechtliche Normen, Gründe für die Fremdplatzierung, Auswahlkriterien für die Pflegeplätze, deren Finanzierung sowie die Bedeutung des Milizsystems bei der Unterbringung der jeweiligen fremdplatzierten Kinder. Sowohl Heime als auch Namen von Betroffenen werden anonymisiert. Das ist nicht ganz verständlich. Zumindest die Nennung der Heimnamen würde es beträchtlich erleichtern, sich in der Vielfalt der Heime zu orientieren.

Ein wichtiger und prägender Teil der Arbeit von Leuenberger und Seglias sind die Interviews mit ehemals Fremdplatzierten und wie diese über ihr Schicksal berichten. Insgesamt verschaffen die Interviews vor allem bezüglich der Situation «fremdplatzierter Kinder» in der Schweiz einen guten Überblick über deren Erfahrungen in den ersten siebzig Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Leben fremdplatzierter Kinder und die Auswirkungen der Fremdplatzierungen auf das spätere Leben werden auf sehr anschauliche Weise beschrieben. Das Gefühl der «Entwurzelung » ist dabei dominant – «Ich bin ausserhalb. Ich bin nie irgendwo gewesen innerhalb (...) von dieser richtigen Familie.» (S. 192) –, aber auch die Erinnerung an das Ausgebeutet-Sein, das Ausgeliefert-Sein an eine anonyme Behörde – «Als ich (...) aus der Schule raus kam, hat ein Mann dort gestanden und der hat mich gerade abgefasst und mitgenommen.» (S. 82) – und das Missbraucht-Werden als Kind, die ständige Drohung mit Gewalt: «Das stundenlange Warten, bis er heimkam und mich prügelte. Das war das Schlimmste.» (S. 153). So zeichnen die Autoren anhand einzelner Schicksale die individuellen Auswirkungen der grossen Armut nach, wie sie in ländlichen Gegenden der Schweiz während des grössten Teils des 20. Jahrhunderts bestand. Sie zeigen, wie sich diese Armut direkt auf die einzelnen Individuen auswirkte. Und sie stellen auch die behördlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen einer spezifischen Form der Armutsverwaltung dar.

Gerne hätte der Leser etwas mehr über den Umgang der Autoren mit den Interviewten erfahren. Denn die Aussagen der Interviewten dürften bei den Interviewern Empörungen und Betroffenheit ausgelöst haben. Zugleich besteht immer eine Bringschuld der Interviewer gegenüber den Interviewten. Denn einerseits sind die Interviewten Objekte – sie liefern die historischen Daten – und anderseits verursachen die Interviewer möglicherweise bei den Interviewten durch die Wiedererinnerung vergangenen Leides einen schmerzlichen Prozess. Allerdings wird diesem Umstand in der vorliegenden Arbeit wenig Platz eingeräumt. Die Transformation von meistens emotional stark befrachteten Informationen, die von den Interviewten im Rahmen eines Vertrauensverhältnisses den Interviewern mitgeteilt werden, in wissenschaftliche Daten ist ein komplexer und schwieriger Prozess. Das Gefälle zwischen dem Interviewer und dem Interviewten erhält eine zusätzliche Bedeutung durch die Situation der Befragten in ihrer Jugendzeit, die sie vorwiegend als Opfer, das heisst als Objekte der Verhältnisse, erlebten.

Gelöst wird dieser Widerspruch – dass die Interviewten, indem sie Informationen für eine wissenschaftliche Arbeit liefern, zu «Objekten» der Forscher gemacht werden und so den Charakter als eigenständige Subjekte in diesem Prozess verlieren, gleichzeitig aber der Anspruch einer aufgeklärten Forschung besteht, dass auch die Befragten Subjektcharakter erhalten – von Marco Leuenberger und Loretta Seglias durch ein verstärktes «politisches» Engagement. Sie engagierten sich etwa für den vom Bundesrat eingesetzten «Runden Tisch» für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Sie betreiben dabei eine Art anwaltschaftlicher Geschichtsschreibung: «Die im vorliegenden Fall gewonnenen Erkenntnisse verpflichten uns zur Stellungnahme (…). [Es ist] Raum zu schaffen für den aktiven Einbezug und die Partizipation von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, von Betroffenen also, und ihre Forderungen an die Gesellschaft.» (S. 364) Geschichtsschreibung mutiert so zu einer Art Lobbyarbeit, für die historische Rekonstruktionen Begründungen liefern. Dass dabei die Gefahr besteht, dass die Distanz zum Objekt, beziehungsweise die «Objektivität» gegenüber dem Gegenstand der Forschung verloren geht, sind sich die Autoren in ihrer Arbeit bewusst (S. 363). Gleichzeitig präzisieren sie: «Wir verstehen ‹Objektivität› als Anleitung zu einer handwerklich und intellektuell einwandfreien Forschungsarbeit, die methodisch nachvollziehbar ist.» (S. 364) Im Rahmen eines auch auf der individuellen Ebene professionellen Umgangs stellt sich die Frage nach der Gleichwertigkeit der Beziehung zwischen Professionellen und Befragten. Zumindest besteht dieser Anspruch in einer aktivierenden Sozialarbeit, wie sie die Autoren als Lobbyisten ja vertreten. Hier postuliert etwa der Berufskodex der Sozialarbeit «kontinuierlich Intervision, Supervision, Coaching und Fortbildung». Auf diese Aspekte wird von den Autoren nicht eingegangen. Das aber wäre der Arbeit, die ja mit der Motivierung von bisher passiven Menschen sozialarbeiterische Strategien verfolgt, wohl angestanden.

Die Arbeit knüpft methodisch an das Konzept der «Lebenswelten» an. Im Rahmen dieses Konzeptes soll «das Wechselverhältnis zwischen Strukturen und Individuen (das heisst den fremdplatzierten Kindern)» untersucht werden (S. 16). Als Struktur wird dabei wesentlich der rechtliche Rahmen – im Speziellen die Ausgestaltung der Aufsicht über die fremdplatzierten Kinder – verstanden. Dabei wird die Frage nach dem «System Fremdplatzierung» gestellt und dieses in einen zeitgenössischen Kontext eingebettet. Im Zentrum steht dabei einerseits der Alltag von Kindern in Pflegefamilien, anderseits soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich der Alltag in der Herkunftsfamilie von demjenigen in der Pflegefamilie unterschied (S. 17). Auf andere strukturbildende Elemente wie zum Beispiel Herrschaftsverhältnisse wird nicht eingegangen. Ob eine Situierung der Befragten im Rahmen einer klarer strukturell orientierten Geschichtsschreibung den Interviewten ihren Subjektcharakter, das heisst ihre Würde als Persönlichkeit, zumindest im Nachhinein zurückgegeben hätte, muss offen bleiben. «Struktur » hätte dafür eine Darstellung der ökonomischen Verhältnisse und der damit verbundenen patriarchalen Herrschaftsverhältnisse verlangt.

Als Instrument zur Rekonstruktion der Lebenswelten der fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen dienen Interviews. Wie diese Interviews durchgeführt wurden, ist unklar, wird doch auf die bereits in einem früheren Projekt – finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds – erarbeiteten Interviews zurückgegriffen. Diese Interviews seien als «offene, leitfadengestützte, narrative Interviews geführt» worden (S. 21). Zwischen «offenen», «narrativen» und «leitfadengestützten » Interviews besteht jedoch ein Unterschied. Während bei «offenen », «narrativen» Interviews der Interviewer per definitionem nach einer Einleitung den Interviewten ohne zu intervenieren erzählen lässt, wird der Gesprächsfluss im «leitfadengestützen» Interview zu strukturieren versucht.

Mag diese Unschärfe der Methode bei der historischen Rekonstruktion von «Tatsachen» von untergeordneter Bedeutung sein, wird dieser Aspekt aber da wichtig, wo die Autoren versuchen, Brücken zur heutigen Situation der Interviewten zu schlagen und die Interviews interpretieren. Dabei geraten sie in Gefahr des populistischen «Psychologisierens» beziehungsweise der einfachen Aussagen, die weder einer systematischen Analyse standhalten noch soziologisch gesehen schichtspezifisch hinterfragt werden. Wenn etwa eine der Befragten meint, sie sei immer wieder Vorwürfen, Beschuldigungen und Verdächtigungen ausgesetzt gewesen – «Nie etwas Positives. ... Ja, von so jemandem kann man auch nichts Positives erwarten...» (S. 194) – müsste diese, die Befragte abwertende Formulierung, auch einem gesellschaftlichen Kontext zugeordnet werden. Es stellt sich etwa die Frage, ob durch solche Aussagen einem Kinde ein schichtspezifisches Verhalten – im Sinne von Bourdieus Die feinen Unterschiede – anerzogen und in seinem Unterbewusstsein verankert werden sollte. Darauf wird leider nicht eingegangen. Hie und da wird auch der schicksalshafte Charakter einer Entwicklung betont, gewissermassen die Ergebenheit in den Umständen. So etwa, wenn bei einem der Interviewten erwähnt wird, dass er unter Druck das Bett nässte, «ein Leiden, von dem er erst als Jugendlicher erlöst werden sollte» (S. 87).

Es wäre interessant gewesen zu erfahren, welches die Motive hinter den vielfältigen Misshandlungen der fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen gewesen waren. Denn – so die Autoren – «aus heutiger Sicht (springt) vor allem die unvorstellbare Gewalt ins Auge, die (fremdplatzierte) Kinder noch im letzten Jahrhundert zum Teil über Jahre hinweg erdulden mussten. Es ergibt sich ein breites Spektrum an Quälereien und Misshandlungen bis hin zu sadistischen Ritualen.» (S. 153) Die Autoren gelangen aber zur Erkenntnis: «Was diese zu ihrem Handeln getrieben hat, kann im Einzelfall kaum mehr nachvollzogen werden. In den Medien aufgegriffene Gerichtsfälle sind rar. Die meisten Vorfälle bleiben ungesühnt. » (S. 153) Weitere erklärende Ausführungen fehlen. Zwar werden die Strukturen der verschiedenen Aufsichtsträger dargestellt, aber kaum das Wertesystem, von dem sich diese leiten liessen. Prominent hervorgehoben werden jeweils die wirtschaftlichen Überlegungen, die zu einer bestimmten Form der Platzierung führten. Den pädagogischen Argumenten kommt eine untergeordnete Bedeutung zu.

Die heutige Diskussion um Verding- und Heimkinder ist geprägt durch den Begriff «fürsorgerische Zwangsmassnahmen», was implizit heisst, dass vor allem die Behörden den Prozess der Fremdplatzierung veranlasst, beziehungsweise ausgelöst haben. Damit wird die weitgehende Verantwortung für eine Fremdplatzierung den Behörden zugeschrieben. Anhand einer seit 1946 geführten Statistik im Kanton Bern zeigte sich jedoch, «dass die Vormundschaftsbehörden als versorgende Instanz zwar stärker in Erscheinung trat, die Eltern aber bis zum Ende des Untersuchungszeitraums die mit Abstand häufigste Versorgungsinstanz blieben. Noch 1979 erfolgten beinahe 60 Prozent der Neuplatzierungen durch die Eltern.» (S. 280) Angesichts dieser Zahlen gilt es, die den Behörden, den privaten Organisationen sowie die den gesetzlichen Regelungen zugeschriebene Bedeutung im Zusammenhang mit dem fürsorgerischen Freiheitsentzug zu relativieren.

Zitierweise:
Wolfgang Hafner: Rezension zu: Marco Leuenberger, Loretta Seglias: Geprägt fürs Leben – Lebenwelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert, Zürich: Chronos, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 260-263.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 260-263.

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